23. Mai 1955

„… und sie bewegen sich doch”
Nachträge zum Petershäger Filmumzug (23. Mai 1955)

Am 23. Mai 2005 jährt sich zum fünfzigsten Mal ein Ereignis, dessen Idee dem heutigen Betrachter ebenso kühn und einmalig erscheint wie dem Zeitgenossen der Wirtschaftswunderzeit. Mitten in der Aufbruchstimmung der Nierentischära fasst ein engagierter Petershäger den Entschluss, seine Stadt in einem ambitionierten Filmprojekt abzulichten. Und dies ist die Idee: Es soll kein Kunstwerk entstehen, sondern ein lebendiges, örtliches Familienalbum, einzig mit dem Ziel, vor allem die Menschen in und aus Petershagen auf der Leinwand zu präsentieren. Ein Film mit historischer Qualität, zugeeignet den Kindern und Kindeskindern des Ortes. Das Kunststück gelingt, es gerät zum Meisterstück und versetzt uns heute in die Lage, ein einmaliges Filmdokument zu besitzen, das den Betrachter in vielfältiger Weise in Erstaunen versetzt. Der 23. Mai 1955 liefert uns nicht nur Einblicke in die stadtgeschichtliche Entwicklung der vergangenen fünfzig Jahre, er führt uns als „örtliches Familienalbum” zugleich das Sozialgefüge jener Zeit – Schule, Gewerbe und Alltag – eindrucksvoll vor Augen.

Und wenn dann noch – oder wieder – kräftig marschiert wird, die Vereine nach Wagner’scher Dramaturgie auf dem Festplatz aufziehen, die Kamera in die Hinterhöfe der Alt- und Neustadt blickt und die Filmemacher an die Türen längst nicht mehr vorhandener Fachwerkhäuser klopfen, treten sie zurückhaltend und voller Misstrauen gegenüber der Filmtechnik ins Bild: die Geborenen des 19. Jahrhunderts, die letzten Vertreter der 1870er-Generationen, die die Geschicke der Stadt Petershagen während zweier Weltkriege mitgeprägt und -erlebt haben. Sie versammeln sich zum filmischen Stelldichein mit den Vertretern des öffentlichen Lebens, der Schülerschaft, den Kindern, Privatleuten, Passanten und Vereinen. Für die Dauer des Filmes wird die Zeit des Schweigens gebrochen, Essenzielles tritt hervor und drängt dem Betrachter Fragen auf: Haben wir die Zeit richtig genutzt? Was haben wir gewonnen, was verloren?

Uwe Jacobsen, 2005