1960 | Martin Bodenstein: "Warum sind sie nicht barmherzig zu uns?"

Freie Presse Bielefeld – Sonnabend, 30. Januar 1960

“Warum sind sie nicht barmherzig zu uns?”

Judenschicksale in einer kleinen Stadt / Von Martin Bodenstein

An einer schmalen hölzernen Tür in einer Seitengasse der kleinen Stadt Petershagen im Kreis Minden haftet noch heute ein Hakenkreuz in schwarzer Farbe. Dieses Hakenkreuz ist nicht neu. Es hat, gemessen an den NS-Symbolen, die in jüngster Zeit in der Bundesrepublik angemalt wurden, eine Geschichte. Sie begann mit der Machtergreifung Hitlers, aber am 10. November 1938 nahm sie eine dramatische Wendung – eine Wendung ins Nichts. Damals wurde auch jenes Hakenkreuz geschmiert, an die Stalltür des Schlachtermeisters Poli. Meier Poli war ein Jude. Zwar war er bei der ersten sogenannten Vergeltungsaktion nach der Kristallnacht schon einmal verhaftet und später ein zweites Mal abgeholt worden. Aber er starb am 31. März 1941 einen normalen Tod.

Seine Frau Frieda wurde ebenfalls abgeholt, bald darauf. Sie kam im Konzentrationslager Theresienstadt in der Tschechoslowakei ums Leben. Kurze Zeit vorher, an einem heißen Sommertag, hatte sie noch zu einer christlichen Nachbarin bei einem Gespräch auf der Straße verzweifelt gesagt: “Warum sind sie denn nicht barmherzig zu uns? Sie sollten uns doch lieber gleich erschießen.” 

Bald nach 1933 begann die Isolierung für die Juden in der kleinen Stadt. Den Kindern in der Schule wurde sie freilich noch nicht so recht bewußt. Die Judenkinder besuchten die einklassige Schule der katholischen Minderheit des Ortes. Die Kinder vertrugen sich gut. Sie spielten gern zusammen. 

Da war Hertha de Vries, ein hübsches, lustiges Kind mit dunklen Augen und dunklen, lockigen Haaren. Ihr Vater handelte mit Textilien, er schenkte den Kleinen oft Puppenlappen. Hertha de Vries und ihr Bruder Arthur sind längst tot, auch ihr Vater Hermann und seine Frau Emmi. Wer weiß, wo ihre Asche verstreut worden ist? Es heißt, sie starben in Warschau.

Hertha war auch ein stolzes Mädchen gewesen. Zuweilen kamen für ein paar Wochen Zigeunerkinder in die kleine Schule. Hertha weinte, als sie neben einem Zigeuner sitzen sollte. Wie konnte dieser kleine Krauskopf ahnen, daß später Juden und Zigeuner in den gleichen Lagern gemordet wurden?

Da war Erich Hertz, ein Junge, der für sein Leben gern lachte. Er wohnte bei seiner Tante Therese – der Mutter von Margot S. – im Haus. Er hing sehr an seinem Lehrer. Einmal wollten die Kinder ihrem Lehrer etwas Besonderes zum Geburtstag schenken. Sie kauften dem liberalen Mann und Gegner Hitlers ein Führerbild. Erich Hertz gab begeistert sein Scherflein dazu. 1941 wurde er dann abgeholt, mit seiner Tante und seiner Kusine Margot nach Riga gebracht. Da verlernte er das Lachen. Er kam bald ums Leben. 

Was wußten die Schulkinder damals vom Nationalsozialismus? Gewiß, sie lachten die Juden insgeheim ein wenig aus. Die Juden wurden ja nicht ganz für voll genommen. Wenn der Viehhändler Eli Friede beispielsweise in die Gastwirtschaft ging, begrüßten ihn die Gäste mit Hallo. Aber sie zogen ihn gern etwas auf. Wenn er dann seine Brieftasche zog und eine Lokalrunde gab, hatte er die Leute auf seiner Seite. Sie amüsierten sich über die Juden, doch sie profitierten auch von ihnen. Trotzdem brannte auch in Petershagen die Synagoge nieder [Vgl. zum Novemberpogrom den Link am Ende des Artikels]. In jener Nacht wurde auch das Haus der Oppenheims geplündert. Die Familie war längst zum christlichen Glauben übergetreten. Das hinderte die Plünderer nicht.

Am nächsten Morgen noch hingen die schönen Teppiche der Oppenheims über den Zäunen. Dr. Moritz Oppenheim war ein beliebter Arzt gewesen. Der kleine Herr mit seinen grauen Haaren und dem gütigen Gesicht hatte viele arme Leute kostenlos behandelt. Seine Tochter Edith sah sehr gut aus, sie war reich, verwöhnt, um deren Freundschaft sich die Schülerinnen rissen. Trotzdem wurde auch sie mit ihren Eltern abgeholt. Sie soll in Warschau getötet worden sein. Ihre Eltern starben in Theresienstadt.

Doch zurück in die Zeit der Synagogenschändungen. Da nahm der Terror Gleichschritt auf. Die Juden wurden immer mehr isoliert. Sie nahmen es hin, ohne Rebellion, verschüchtert, sie hofften immer noch. Sie fühlten sich nicht als Rasse, als Fremdlinge. Sie waren Deutsche, und sie versuchten, in der Gemeinschaft der kleinen Stadt mit den anderen Bewohnern in gutem Einvernehmen zu leben. An ihnen lag es nicht, daß dieses Verhältnis gestört, zerstört wurde.

Einst im Winter fuhr ein judenfreundlich gesinnter Einwohner den Juden Julius Berghausen mit dem Motorrad an. Es war ein Versehen auf schneeglatter Straße, und der Fahrer half dem Juden auf – ihm war nichts passiert – und entschuldigte sich vielmals. Der Jude klopfte sich den Schnee von seinem Mantel. Dann sagte er seufzend: “Ach, lieber Herr, wenn Sie mich jetzt totgefahren hätten, würden Sie sogar einen Orden dafür bekommen.”

Ihre Widerstandskraft war, von Jahr zu Jahr mehr gelähmt, allmählich am Ende. Auch der Name Julius Berghausen steht neben mehreren seiner Verwandten auf der Todestafel in der neuen Synagoge der jüdischen Kultusgemeinde zu Minden. Ob sein späterer Mörder einen Orden bekommen hat, wird niemals bekannt werden. 

178 Namen ermordeter Juden aus dem Kreis Minden sind auf der Tafel eingraviert. Doch diese Tafel ist bereits überholt. Vertreter der jüdischen Kultusgemeinde versichern, daß sie inzwischen die Namen von 35 weiteren Opfern der Judenverfolgung ermittelt hätten. Vielleicht wird diese Tafel niemals vollständig sein.

Nur die Kinder spielten noch friedlich zusammen. Sie bauten ihre Hütten, “Butzen” genannt, in den Hecken des jüdischen Friedhofes hinter dem Bahngleise. Später haben Erwachsene die Grabsteine auf diesem Friedhof umgeworfen. Noch später wurden dort Hunderte von Juden aus dem nahegelegenen “Arbeitslager” in Lahde verscharrt. Morgen für Morgen wurde ein Trupp Häftlinge aus dem Lager, das von elektrisch geladenen Stacheldrahtzäunen gesichert, von Bluthunden bewacht und nachts von Scheinwerfern beleuchtet wurde, unter Bewachung mit einer großen Kiste – vorne und hinten je ein Handgriff zum Tragen – mit der Fähre über die Weser gesetzt. Dann kippten sie ihre Last auf dem jüdischen Friedhof in ein Massengrab.

Was wußten die Kinder von der Judengesetzgebung, die nach 1933 den Juden die Paragraphenschlinge um den Hals legte und langsam, aber sicher immer fester zog? Was wußten sie von Worten wie “Entjudung des Besitzes” aus dem Wörterbuch der Unmenschlichkeit?

Was mochte ein junges, unbekümmertes Mädchen wie Hertha de Vries fühlen, wenn sie nicht mehr zum Friseur gehen durfte? Auch das wurde im Laufe der Zeit verboten.

Den Juden war schließlich alles verboten: die Benutzung von Fahrkartenautomaten, öffentlichen Fernsprechern, Schlaf-, Speise- und Ausflugswagen und Ausflugsschiffen, der Besuch von Wirtschaften, Warteräumen, Theatern, Konzerten, Museen, das Kaufen von Büchern in Buchhandlungen. Ihnen war nach einer Anordnung der Aufsichtsbehörden “über das Halten von Haustieren” vom Mai 1942 untersagt, Hunde, Katzen und Vögel zu besitzen. Sie durften keine Hausgehilfinnen und keine Brieftauben haben. Ihre Ausgehzeit war beschränkt.

Bis sie schließlich ein solches Schreiben in Händen hielten:

Im Auftrage der Geheimen Staatspolizeistelle … werden Sie zwecks Evakuierung hiermit aufgefordert, sich am … um … zu stellen. Hierzu haben Sie mitzubringen je Person: a) Zahlungsmittel (bis u 100 RM), b) einen Koffer mit Ausrüstungsstücken (bis zu 50 Kilo), c) vollständige Bekleidung, d) Bettzeug mit Decke, e) Verpflegung für 3 Tage. Bei der Gestellung sind abzuliefern: 1. Wertpapiere, Devisen, Sparkassenbücher, Banksparbücher etc. und Bargeldbestände über 100 RM, soweit vorhanden. 2. Wertsachen jeder Art (Gold, Silber, Platin), mit Ausnahme der Eheringe. 3. Lebensmittelkarten. 4.) Haus- und Wohnungsschlüssel.” 

Es gab da auch eine Verordnung, durch die der Artikel 6 der Verordnung des Reichsjagdgesetzes (§24) dahin geändert wurde, daß Juden keinen Jagdschein erhalten durften. 

Dabei waren sie selbst zum Freiwild gestempelt worden. Die Treibjagd hatte längst begonnen, ehe sie in den Vernichtungslagern den Gnadenschuß erhielten. Doch ihr Tod war selten gnädig. 

Link >> Das Novemberpogrom 1938
Link >> Stolpersteine

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Freie Presse Bielefeld. Sonnabend, 30. Januar 1960. Ein frühes Beispiel für Erinnerungskultur.

Der jüdische Friedhof Petershagen im Mai 2021.

Der Schlachter Meier Poli vor seinem Haus in der Mindener Str. 20 (Nr. 40). Auf der Bank (undeutlich): Ehefrau Frieda Poli mit drei Kindern. Fotoatelier Beste (1898-1905).